Korrekturlesen oder doch mehr?

Korrekturlesen oder doch mehr?

Bevor ein Buch im Regal stehen kann, sind viele Arbeitsschritte notwendig.
Heute erzähle ich, Verena, von meinem Aufgabenbereich: dem Korrekturlesen.

An und für sich gibt es das Lektorat und das Korrektorat. Während das Korrektorat nur für Grammatik und Rechtschreibung zuständig ist, achtet das Lektorat auf Sprache, Stil und Schlüssigkeit. In erster Linie fällt meine Aufgabe „Korrekturlesen“ also unter Korrektorat. Allerdings achte ich auch auf viele andere Dinge und teile mir das Lektorat mit Verlagsinhaberin Margarete Tischler. Gemeinsam feilen wir an Lösungen für Passagen, die noch etwas holprig klingen.

Jetzt gerade bin ich bei der Schlusskorrektur für Friedrich Radlspäcks Buch Nicht systemkonform. Dabei stolperte ich gestern über eine Stelle, die ein sehr schönes Beispiel dafür darstellt, wie umfangreich meine Arbeit ist. Denn obwohl Friedrich gründlich recherchiert hat und seine Informationen aus Quellen übernommen hat, überprüfe ich unter anderem die Schreibweise von Orten und (Straßen)Namen.
Es geht um folgenden Text: „[…] wurde endgültig ein Ghetto in Czortków eingerichtet […] Dieses umfasste die Straßenzüge Rzeznicka, Skladowa, Targowa, Lazienna, Podolska und Szkolna.“
Sind diese Straßennamen richtig geschrieben? Das muss ich herausfinden.
Das Gebiet, in dem sich diese Straßen befinden, liegt in der heutigen Ukraine. Beim Suchen der Straßen, die in Tschortkiw, deutsche Bezeichnung für Czortków, sein sollten, stellte ich fest, dass sie sich eigentlich in Lemberg befinden.

Die blauen Marker mit den weißen Quadraten markieren die sechs Straßen.

Auf der Karte kann man ablesen, dass es sich um die Stadt Lwiw handelt – die ukrainische Bezeichnung für Lemberg. Die Straßen haben heute andere Namen, aber erstens findet Google Maps sie trotzdem und zweitens hat die Stadt Lemberg ein sehr schönes Online-Archiv, in welchem die Straßen mit ihrer „Namenshistorie“ zu finden sind.

Google-Maps-Ergebnis bei Eingabe von „Rzeznicka“: Nalyvaika Street
Anhand der „Lviv Streets“-Karte kann man rechts ablesen, dass die Straße von 1871 bis 1941 „Rzeznicka“ hieß. 1941-1944 hatte sie den deutschen Namen „Schlachthofstraße“. Seit 1944 sind die Namen in Kyrillisch geschrieben, allerdings kann man auf der Karte selbst den Namen „Nalyvaika Street“ ablesen.
blaue Marker: Lemberg und Tschortkiw

Warum werden diese Straßen in Friedrichs Text Tschortkiw zugeordnet, obwohl sie eigentlich in Lemberg sind? Lemberg und Tschortkiw sind ganz schön weit voneinander entfernt, wie die Karte zeigt.
Meine Recherche ergab, dass beide Städte früher im „Distrikt Galizien“ lagen, ein vom Dritten Reich besetztes Gebiet der Sowjetunion. Der „Distrikt Galizien“ wurde von Lemberg aus verwaltet. Und in beiden Städten gab es zu der Zeit Judenghettos.

Handelt es sich um eine Verwechslung? Wo ist der Ursprung dieser falschen Zuordnung der Straßen? Für sein Buchprojekt hat Friedrich mehrere Jahre lang gründlich recherchiert, selbstverständlich Quellen angegeben und sich auf diese verlassen. Bei meinen Recherchen zu den Straßennamen bin ich unabhängig auf dieselbe Quelle gestoßen, welche Friedrich angegeben hat. Ich stellte fest: Es steht so in der Quelle. (Mit den teilweise nicht ganz richtig geschriebenen Straßennamen.) Hat sich der Verfasser der Quelle geirrt? Auf anderen Webseiten findet man ebenfalls den Bezug auf diese Quelle, allerdings wurde auf diesen Irrtum nie eingegangen.

Fragen bereiten mir Kopfzerbrechen: Ist diese Diskrepanz niemandem aufgefallen? Habe ich etwas falsch verstanden? Was stimmt jetzt wirklich?

Fest steht: Ich habe eine gute Stunde lang zu diesem Thema recherchiert, und das alles eigentlich nur, weil ich die Straßennamen richtig schreiben wollte. Das Ergebnis: Es bleibt wie es ist, selbstverständlich wird im Buch die Stelle genau wie in der Quelle geschrieben.

Nennt es Lektorat, Korrektorat oder was auch immer. Man sieht es dem Buch nicht an, wie viel intensive Arbeit und Herzblut drinnen steckt. Allein der Leser merkt es, wenn er damit seine Freude hat und das Buch immer wieder gern zur Hand nimmt.

SHARE IT:

Leave a Reply